Diese Seite ist dazu gedacht, als Vortrag gehalten zu werden, kann (und sollte ;) ) aber auch später noch einmal zum Nachlesen aufgerufen werden. Der Vortrag bezieht sich vor allem auf "Gott und der Staat", eine relativ bekannte politische Schrift des Anarchisten Michail Bakunin. Im Folgenden möchte ich auf die Grundlagen des kollektivistischen Anarchismus und Bakunin als politische Persönlichkeit eingehen. Der Schwerpunkt des Vortrags liegt auf der Analyse und Einordnung einiger Textstellen aus "Gott und der Staat". Der gesamte Text kann in der anarchistischen Bibliothek online gelesen werden. Der Vortrag basiert aber auf der (etwas kürzeren) Fassung, die im Hofenberg-Verlag verlegt ist (Übersetzung von Max Nettlau).
Kein Gott, kein Staat, kein Vaterland -- Was ist (sozialer) Anarchismus?
- Wort aus der griechischen Antike - "ohne Herrschaft" (Übergangszeit der Regierungen)
- historisch auch als Schmähbegriff gegen polit. Gegner --> Pierre-Joseph Proudhon war erster, der sich als Anarchist bezeichnete (franz. Frühsozialist)
- "den Anarchismus" gibt es nicht, stattdessen eher viele mehr oder weniger ähnliche oder verschiedene Strömungen (Beispiele):
- kommunistischer Anarchismus: verbindet klassisch anarchistisches Denken mit kommunistischen Wirtschaftselementen; konkret etwa freie politische Vereinbarungen (z.B. Arbeiterräte, Föderationen, gesellschaftstragende Kommunen) mit der Forderung der gemeinschaftlichen Überwindung von autoritär-repressiven Strukturen, kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen und (National-)Staaten -- zentraler Theoretiker war Pjotr Kropotkin
- kollektivistischer Anarchismus: fordert die Überwindung allgemeiner repressiv-autoritärer Strukturen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft (heute: Nationalstaaten, Kapitalismus und Klassen in der Gesellschaft) und möchte kollektive Selbstorganisation zur Grundlage der Gesellschaft bringen -- zentraler Theoretiker war insb. Michail Bakunin
- individualisitischer Anarchismus: unterscheided sich von kommunistischen und kollektivistischen Strömungen vor allem bei der Rolle der einzelnen Person (des "Individums"), das keiner repressiven Autorität ausgesetzt werden soll und in gesellschaftlichen Fragen genau dann mit anderen zusammenarbeiten soll, wo es nötig ist, weniger allerdings im Allgemeinen
- ökologischer Anarchismus: verbindet klassische sozialanarchistische Philosophie z.B. mit einem größeren Schwerpunkt auf ökologischen Fragen und dem Verhältnis zwischen der menschlichen Gesellschaft (Kultur) und seiner Umwelt (Natur)
- Anarchismus ohne Adjektive: setzt sich aus verschiedenen anarchistischen Konzepten zusammen, kann allerdings auch Spezifizierung ablehnen --> siehe Anarchistische Grundwerte; teils: Konzept der parallelen Existenz verschiedener anarchistischer Gesellschaftsmodelle
- Neulinker Anarchismus: Antiautoritäre Bewegungen beispielsweise Ende der 60er Jahre (Vgl.: Gründung der Grünen; globale Studierendenbewegung) --> Vgl. auch: Lage des Anarchismus in Deutschland nach der Nazi-Diktatur
- Ablehnung hierarchischer und autoritärer Strukturen im Allgemeinen --> auch in Sachsen Religion
- Sozialer Anarchismus: Ablehnung eines ungleichberechtigtenden, herrschaftsbasierten Wirtschaftssystems (z.B. heutiger globalisierter Kapitalismus)
- Vorschlag alternativer Organisationsweisen anstelle des historischen und aktuellen Staates --> z.B. permanent- oder situationskollektive Organisationsweise (Kommunen, Föderationen, Plattformen statt Parteien und Bewegungen innerhalb der Gesellschaft)
konkret heißt das beispielsweise:
- Verwaltung von Betrieben durch die Belegschaft
- Organisation des Lebens in relativ kleinen Gruppen (z.B. 60 Menschen) mit wenigen Zwängen (immer gesellschaftliche Strukturen)
- große Bedeutung gemeinsamer Entscheidungsfindung -->
- höhere Verwaltungsebenen in föderaler Struktur, wobei Vertrendende sofort von der Gruppe abwählbar sein sollten
- solidarische Organisation wirtschaftlicher Tätigkeiten (Vgl.: solidarische Landwirtschaft)
gemeinsame Ideen & Vorstellungen (strömungsübergreifend):
Chaos und Terror -- Was sozialer Anarchismus nicht ist:
- "Anarchie" wird oft mit Chaos, Gewalt und Terror gleichgestellt --> eigentlich eher das Gegenteil:
- anstelle hierarchischer staatlicher Strukturen steht z.B. eine Föderation, die sich aus einzelnen Individuen in gemeinsamer Zusammenarbeit zusammensetzt
- solidarische Wirtschaftsorganisation führt zum Überflüssigwerden von Wirtschaftskriegen, Kriegswirtschaft, etc. (Vgl.: Anarchopazifismus)
- Anarchismus meint eigentlich kollektive Selbstorganisation und nicht den Zerstörungskampf aller gegen aller --> das wird unter dem Begriff Anomie beschrieben. Vgl. Wikipedia:
"Anomie bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder schwacher sozialer Normen, Regeln und Ordnung."
Weitere Links zum Einstieg in den Anarchismus:
- Buchempfehlungen zum Thema: "Gott und der Staat", Bakunin; "Der Staat und seine historische Rolle", Kropotkin; "Der kurze Sommer der Anarchie", Enzensberger; "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt", Kropotkin; "Mein Katalonien", Orwell; "1984", Orwell
Wer war Michail Bakunin?
- geboren am 30. Mai 1814; gestorben am 1. Juli 1876
- Sohn russischer Adelsfamilie; später Attilerieoffizier und Mathematiklehrer
- --> praktisch Ablehnung seines gesellschaftlichen Standes, repressiver Autorität, Religion, menschlicher Ungleichheit, Einschränkung menschlicher/gesamtgesellschaftlicher Freiheit durch Herrschaft
- einer der wichtigsten Denker des sozialen Anarchismus --> kollektivistischer Anarchismus
- besondere Gewichtung von Religionskritik
- beteiligte sich aktiv an sozialrevolutionären Bewegungen in Europa (insb. Arbeiterbewegung und soziale Revolution)
- Streit mit Karl Marx in der 1. Internationalen Arbeiterassoziation --> Ausbau des Konzept eines antiautoritären, anarchistischen Sozialismus auf Grundlage von Gleichheit, Freiheit und föderaler Organisation
- politische Verfolgung und Inhaftierung z.B. auch auf der Festung Königstein
- genaueres z.B. hier: Britannica.com/biography/Mikhail-Bakunin (Englisch), Wikipedia-Eintrag zu Bakunins Leben und Denken
Große Frage für den Vortrag:
Wie standhaft sind religiöse Konzepte, betrachtet unter den Gesichtspunkten menschlicher Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit: Wie wird Religion im sozialen Anarchismus beurteilt? (Zitate im Folgenden immer aus "Gott und der Staat")
Grundlagen
- Bakunin argumentiert auf Grundlage eines umfassenden Materialismus, also weltlichen Gegebenheiten:
"Die Idealisten aller Schulen, die Aristokraten und Bourgeois, Theologen und Metaphysiker, Politiker und Moralisten, Geistlichen, Philosophen und Dichter – nicht zu vergessen die liberalen Ökonomisten, diese zügellosen Anbeter des Ideals, – all diese sind sehr verletzt, wenn man ihnen sagt, daß der Mensch, mit all seiner glänzenden Intelligenz, seinen erhabenen Ideen und grenzenlosen Bestrebungen, wie alles auf der Welt, nichts als Materie, nichts als ein Produkt dieser niedrigen Materie ist."
--> Ablehnung göttlicher Schöpfungsmythen und Bekenntnis zu wissenschaftlichem Weltverständnis
- Religionskritik als Mittel zur Begründung der Notwendigkeit Revolutionärer Aktivitäten und Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen:
"Drei Elemente oder drei Grundprinzipien bilden die wesentlichen Bedingungen aller gemeinschaftlichen und persönlichen menschlichen Entwicklung in der Geschichte: 1. die menschliche Animalität; 2. das Denken; 3. die Empörung. Dem ersten entspricht die soziale und private Wirtschaft, dem zweiten die Wissenschaft, dem dritten die Fгeiheit."
- Kritik richtet sich an Prinzipien religiösen Glaubens, Verschränkung und Umsetzung religiöser Strukturen auf Erden und resultierende gesellschaftliche Verhältnisse
- Kritik konkret vor allem an Christentum (auch als weitverbreitetste Religion damals wie heute)
- "Jede Entwicklung [...] schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein."
Kritik des christlichen Gottesbildes
- zunächst Fragestellung: Wie charackterisiert das Christentum Gott?
- --> Schöpfungsmythos: Glaube, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, dann sei Menschheit verführt worden --> Glaube, dass im Menschen etwas göttliches Stecke, dass sich heute in allem Guten, Edlen, ... wiederspiegle
- anarchistische Kritik Bakunins hinterfragt grundlegend den Schöpfungsmythos --> sieht Gott und Religion als Glaube der Menschheit, der aus menschlichem Unwissen entstanden sei/ist --> Bereits der Schöpfungsmythos separiert Menschheit von Gott --> wenn Gott für alles Gute steht, wird Menschheit diese Eigenschaft grundlegend abgesprochen --> auf der Erde bleiben die gegenüber Gott unvollkommenen Menschen:
"Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich preist, erkennt man damit an, daß die Menschheit allein nicht imstande gewesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit."
- teilweise Anpassbarkeit Gottes und der Auslegung seiner Lehren nach relativer Hinterfragung der Göttlichen Herrschaft:
"Es gibt endlich eine ziemlich zahlreiche Klasse ehrlicher, aber schwacher Seelen, die zu intelligent sind, um die christlichen Dogmen ernst zu nehmen und sie im einzelnen verwerfen, aber nicht die nötige Kraft und Entschlossenheit haben, sie als Ganzes zu verwerfen. Sie geben alle speziellen Unsinnigkeiten der Religion der Kritik preis, sie weisen alle Wunder zurück, aber sie klammern sich verzweifelt an den Hauptunsinn, der die Quelle aller anderen ist, an das Wunder, das alle anderen Wunder erklärt und rechtfertigt, an das Dasein Gottes. Ihr Gott ist nicht das starke und mächtige Wesen, der brutal positive Gott der Theologie. Er ist ein nebelhaftes durchsichtiges und trügerisches Wesen, so trügerisch, daß, wenn man ihn zu packen glaubt, er sich in das Nichts verwandelt; er ist eine Spiegelung, ein Irrlicht, das weder wärmt noch erhellt. Und doch halten sie an ihm fest und glauben, daß mit seinem Verschwinden alles mit ihm verschwinden würde. Das sind unentschlossene krankhafte Seelen, die sich in der heutigen Kultur nicht zurechtfinden, die weder der Gegenwart noch der Zukunft angehören, blasse Phantome, die ewig zwischen Himmel und Erde hängen und die sich in derselben Stellung zwischen der Bourgeoispolitik und dem Sozialismus des Proletariats befinden."
Allgemeine, scharfe Kritik göttlicher Herrschaft
- durch Stellung als Schöpfer, Resultat menschlicher Unwissenheit und fiktive Verkörperung allen Edlen wird Gott in höhere Position gehievt:
"Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie dieselben durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie auf ihre Götter, übertrieben, ins maßlose ausgedehnt, wie Kinder zu tun pflegen."
- --> z.B. Ausdruck Gott der Herr --> Bakunin schlussfolgert logisch und m.M.n. richtig Stellung der Menschen in religiösem System:
"Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Menschen nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben."
- --> göttliche Stellung klar hinterfragt und als weltfremd entlarvt, da sie nur von angeblich Erleuchteten weitergetragen wird
- --> soziale Absicht Bakunins wird deutlich - sieht Mensch als selbsternannten Sklaven Gottes, der nicht in dieser Position sein sollte
- Höhepunkt der Argumentation:
"Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen."
- Gott fungiert laut Bakunin zur Zügelung des Volkes im Sinne der Herrschenden:
"Geistliche, Monarchen, Staatsmänner, Krieger, öffentliche und private Finanziers, Beamte aller Art, Polizisten, Gendarmen, Kerkermeister und Henker, Monopolisten, Kapitalisten, Steuereintreiber, Unternehmer und Hausbesitzer, Advokaten, Qkonomisten, Politiker aller Farben, bis zum letzten Philister, alle wiederholen einstimmig die Worte Voltaires: Wenn es keinen Gott gäbe, müßte man einen erfinden. Denn, ihr versteht, das Volk braucht eine Religion. Sie ist das Sicherheitsventil."
- dann korrigiert Bakunin den Satz im Sinne der anarchistischen Religionskritik:
"Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die unbedingte Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: wenn Gott wirklich existierte, müßte man ihn beseitigen."
- Bakunin drückt allerdings auch ein mögliches anarchistisches Verhältnis zur Autorität aus und unterscheided so (abstrahiert) zwischen repressiver und wissenschaftlicher Autorität:
"Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen, und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll."
- Verhältnis weitet sich auch auf allg. Leben aus (z.B. bei Handwerkern, denen man vertraut), soll aber an Fachgebiet gebunden und nicht allgemein sein:
- auch Wissenschaftler nicht unfehlbar und Wissenschaft nie abschließend vollständig
Kritik an vorgeblichen weltlichen Gottesvertretern
- Bakunin ist überzeugt von menschlicher Gleichheit --> hinterfragt, weswegen einige sich durch angebliche göttliche Erleuchtung über andere setzen und insbesondere zum eigenem und/oder dem der Kirche handeln können
Bildungspolitischer Exkurs
- relativ lange Fußnote, die auf einer Frage Bakunins an Giuseppe Mazzini beruht:
"„Die erste Maßregel, sagte er mir, wird die Gründung von Schulen für das Volk sein.“ – Und was wird man dem Volk in diesen Schulen lehren? – „Die Pflichten der Menschen, Aufopferung und Hingabe.“"
- Kritik an republikanischen Staatsvorstellungen:
- Frage, ob derartiges Lehren (1.) möglich sei --> nicht viele verpflichten sich höheren Zielen
- Kritik am Habitus christlicher Geistiger --> zusammenfassend: Wasser predigen und Wein trinken
- Aufdeckung von Widersprüchen
- --> christliche [insbesondere katholische] Enthaltsamkeit gegenüber natürlichen Drängen d. Menschen --> gegenläufig zu wissenschaftlich begründbaren menschlichen Drängen [Vgl.: Zölibat]
- --> "Stellung des Lehrers": Charackterisiert Lehrer als befehlende, herrische, repressive, ausbeutende Person (Anm.: insb. im 19. Jhd.) --> gegenläufig zu christlichem, enthaltsamen Wertespektrum v.a. im Vergleich mit Jesus Christus
- --> kritisiert Rolle des Papstes, der angeblich der Vertreter Gottes auf Erden sein soll, de facto aber nur theologisch über anderen Menschen steht --> religiöse und gesellschaftliche Ungleichheit
- Befürchtung solcher Entwicklungen in christlich geprägten Schulen
- --> Kinder werden nicht unabhängig, sondern in die Religion hinein er- und gezogen
- am Ende der Schullaufbahn keine unabhängigen und kritischen Persönlichkeiten, sondern geformt in die Passform der Gesellschaft:
"Ebenso wird es aber den göttlich erleuchteten und vom Staat bevorrechteten Lehrern der modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die einen unbewußt, die anderen mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volkes für die Macht des Staates und zum Nutzen der bevorzugten Klassen lehren. Muß man also allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen? Nein, durchaus nicht, man muß mit vollen Händen Bildung in den Massen verbreiten und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen gewidmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Befreiung verwandeln."
- Bakunin schlägt mehr oder minder Schulsystem vor, in dem Autorität am ersten Schultag am höchsten, am letzten nicht mehr vorhanden sein soll:
"Das Autoritätsprinzip bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es wird rechtmäßig, notwendig, wenn es auf Kinder in niedrigem Alter angewendet wird, deren Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Verneinung des Ausgangspunktes bildet, muß sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz machen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde nichts anderes, als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll, als der, Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität."
- lehnt die Anwendung des Autoritätsprinzips auf Erwachsene strikt ab
- überträgt dann Bildungssystem auf gesellschaftliche Fragen:
"Die wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und vernünftige Autorität, die einzige, die wir achten können, wird die des kollektiven und öffentlichen Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und die gegenseitige menschliche Achtung all ihrer Mitglieder gegründeten Gesellschaft sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, sondern eine ganz menschliche Autorität, vor der wir uns gern beugen, da wir sicher sind, daß sie die Menschen, statt sie zu knechten, befreien wird."
Weitere inhaltliche Folgerungen:
- Behandlung materialistischen und religiös-idealistischen Denkens:
"Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets denselben wesentlichen Gegensatz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich schon bemerkte, der Materialismus von der tierischen Stufe aus, um die Menschheit zu bilden; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verurteilen. Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus verkündet den freien Willen im Namen der Menschenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das Autoritätsprinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Zugabe zur tierischen Natur betrachtet und weil ihm der Sieg der Menschlichkeit, der in seinen Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte ist, nur durch die Freiheit verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man den Idealisten stets bei unbedingtem Materialismus treffen, während man die Materialisten die höchsten idealen Ziele und Gedanken verfolgen und verwirklichen sieht."
- etwa ab Seite 45 (Abschnitt III): Erklärung der Entwicklung des Christentums zur Weltreligion und d. Verhältnis der Bourgeoisie zu Katholizismus und Protestantismus; Fazit: die Bourgeoisie nutzt, wie Bakunin beschreibt, den Protestantismus zur Zähmung der Bevölkerung:
"In dieser Hinsicht ist der Protestantismus viel bequemer. Er ist die Bourgeoisreligion par excellence."
Übertragung in die heutige Zeit
- zwar nicht taufrisch, aber: muss es in die heutige Zeit übertragen werden?
- persönliche Ebene: eher nicht, da Argumentation für oder gegen Glauben kontinuierlich fortbesteht --> Religion verharrt in alten Mustern!
- Kritik an Entstehung kirchenähnlicher Strukturen bezogen auf Geschichte --> noch immer aktuell; hierarchische Strukturen der Religion insbesondere im Christentum nicht verändert (auch wenn Kirchen sich manchmal woke geben)
politische Strukturen
- teils komplexer als persönliche Entscheidungen:
- Fakt ist: Staat und Kirche sind noch immer miteinander verwoben
- Finanzierung kirchlicher Strukturen z.B. über die Kirchensteuer --> zwar bezogen auf Mitglieder, immer noch über Staat organisiert
- politische Akteure, die sich klar religiös bekennen --> z.B. CDU/CSU --> politische Auslegung einer Religion als angeblich religionsneutraler Staat
- Religionslehre in staatlichen Schulen über Allgemeinbildung hinaus:
- christlicher Religionsunterricht de facto bevorzugt, da andere Religionsunterrichtsfächer speziellen Anstrengungen unterliegen --> wenn überhaupt z.B. in parteiischen Gotteshäusern
- religiöse Überzeugung von Lehrenden, insb. Religionsunterricht --> persönliche Entscheidung, ABER:
- Warum nicht Lehrer/innen durchwechseln? (Vgl. Profilunterricht)
- Bedeutung religiöser Gruppen bei Wahlen: z.B. Evangelikale in USA unterstützten/unterstützen klar Trump --> politischer Rückhalt
- Folgen:
- Wissenschaftliche Betrachtungen treten in den Hintergrund (insb. bei extremen Glaubensauslegungen)
- Aufrechterhaltung hierarchischer religiöser Strukturen --> Aufrechterhaltung hierarchischer Gesellschaftsstrukturen --> keine menschliche, soziale Gleichheit
- Diskriminierung religiöser Minderheiten durch faktische Bevorzugung einer Religion
"Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen."